Karten haben Jens Wille schon immer fasziniert: Nach einer Ausbildung bei der Deutschen Bahn als Vermesser und Kartograph studierte er Stadt- und Regionalplanung, Architektur und Urban Design in Weimar und Glasgow und tauchte anschließend in die Welt des Mediendesigns ein. Die Liebe zu Karten gipfelte 2007 in der Mitgründung von Ubilabs: Als Data and Location Technology Consultancy unterstützt Ubilabs datengetriebene Unternehmen, die die Zukunft der Mobilität, das Leben in Städten und eine nachhaltige Entwicklung gestalten. Hierzu bietet Ubilabs ein integriertes Portfolio aus Beratung, Software-Entwicklung, Visualisierung und Data Management. Wir haben uns darüber unterhalten, welche Bedeutung Daten in der Corona-Krise zukommt, welches Potenzial in Mobilitätsanalysen steckt und warum Pop-up-Radwege einen Feedback-Kanal brauchen. 

 

Das Interview mit Jens Wille fand am 16.12.2020 statt – der zweite harte Lockdown in Deutschland ist da. Aufgrund der wieder exponentiell steigenden Infektionszahlen und der zunehmend höchst kritischen Situation in den Krankenhäusern wird das öffentliche Leben radikal heruntergefahren, um eine Eskalation der Infektionen zu verhindern. 

 

Urban Change Academy: Welche Rolle spielen Daten in der Corona-Krise?

Jens Wille: In Daten stecken viele Erkenntnisse. Wir haben bei Ubilabs Mobilitätsanalysen durchgeführt, anhand derer wir sehen können, wie schnell sich das Mobilitätsverhalten im Lockdown verändert hat. Auch in anderen Projekten wurden verschiedenste Datenquellen anonymisiert ausgewertet: Wo befinden sich die typischen Radverkehrsstrecken? Wie verteilt sich das Verkehrsaufkommen über den Tag über den Stadtraum? In der Hinsicht könnte meiner Meinung nach noch viel mehr passieren. Es wäre zum Beispiel auch interessant, Location-Histories auszuwerten. Durch Datenspenden könnten wir rückblickend analysieren, welche Auswirkungen zum Beispiel ein Pop-up-Radweg hat. Verändern die Menschen tatsächlich ihre Mobilitätsgewohnheiten? Auch die Veränderung des Modal Splits, d.h. welche Verkehrsmittel genutzt werden, könnte man so über einen Zeitverlauf analysieren. Das sind pure Datenthemen. Daneben braucht es auch eine qualitative, emotionale Ebene – beispielsweise durch die Annotation der aufgezeichneten Strecken. Als Radfahrer stößt man immer wieder auf schlecht ausgebaute Radwege, die plötzlich im Nirgendwo enden oder an bestimmten Stellen zugeparkt sind. Um Daten mit solchen wichtigen Informationen anzureichern, müssen wir einen geeigneten Zugang finden. 

 

Daten sind ein gutes Stichwort. Bei Ubilabs beschäftigt Ihr Euch ja ganz viel mit Kartenanwendungen. Was hältst Du von der Diskussion rund um ortsbezogene persönliche Daten und die Nachverfolgung von Infektionsketten?

Bei der persönlichen Location-History ist klar: Das ist ein hochindividueller Datenschatz, den man nicht ohne Weiteres mit jemandem teilen möchte. Auch wenn die Daten anonymisiert sind, erlauben die Bewegungsmuster Rückschlüsse auf die Person. Dennoch wissen wir, wie dramatisch die ganze Corona-Situation ist und wie entscheidend es ist, die Infektionsketten zurückzuverfolgen. Meine Einschätzung ist, dass viele Menschen die letzten zwei Wochen ihrer Location-History bereitstellen oder manuell Auskunft geben würden. Trotzdem merken wir, wie groß die Hürden sind, solche Lösungen in den Gesundheitsämtern einzuführen. Die tun sich im Moment sehr schwer mit perspektivischen Fragestellungen, weil sie alle Hände voll zu tun haben. 

Klar ist: die Gesundheitsämter müssen entlastet werden. Um das zu ermöglichen, haben wir für das Bundesgesundheitsministerium gemeinsam mit der Medizinischen Hochschule Hannover ein Tool entwickelt, mit dem Corona-Infizierte ihre Location History zur Verfügung stellen oder sie manuell eintragen können, um eine schnelle und strukturierte Erfassung der Orte und Kontaktpersonen zu erreichen.

 

Welche Herausforderungen siehst Du da? Was müsste in Zukunft getan werden, um bei der nächsten Pandemie besser vorbereitet zu sein?

Der Föderalismus bringt es mit sich, dass wir in Deutschland 400 Gesundheitsämter haben, die sehr unterschiedlich aufgestellt sind – es gibt nicht die eine Software für deutsche Gesundheitsämter, jedes Amt hat da seine eigene Methodik für die Ergründung von Infektionsketten. Mit der einheitlichen Software-Plattform SORMAS und einem darin verankerten Location-Tool könnte man die Daten strukturiert erfassen und sofort weiterverarbeiten. Im Moment werden die Daten also gar nicht in einem einheitlichen Format erfasst, so dass man alle Bewegungsprofile übereinanderlegen und analysieren könnte, wo sich Menschen begegnen – ein bisschen vereinfacht gesprochen. Aber daran wird gearbeitet. Es gibt aktuell das Bestreben, 90 Prozent der Gesundheitsämter mit einer SORMAS auszustatten, die offen für Erweiterungen ist. Das ist dann schon eine Hoffnung. Aber die Frage ist natürlich berechtigt: Warum ist das nicht schon früher da gewesen? 

 

Mit Blick auf die Post-Corona-Stadt: Welches Potenzial siehst Du in Mobilitätsanalysen? Was könnte man daraus noch entwickeln?

Der öffentliche Nahverkehr steht jetzt vor der Frage: Wie verändert sich das Mobilitätsverhalten in unserer Stadt? Welche Erkenntnisse können wir aus den vielen Daten ziehen – von Fahrgastzählungen in der S-Bahn über Abo-Modelle und Ticketverkäufe am Automaten, bis hin zur Frage, wo wird welche Fahrkarten wann gekauft und wie korreliert das mit den Verbindungsauskünften? Diese Daten könnten den unterschiedlichsten Anwendern zur Verfügung gestellt werden und durch Shared-Mobility-Daten ergänzt werden, um ein möglichst ganzheitliches Bild der Nutzungsgewohnheiten zu gewinnen und daraus Maßnahmen abzuleiten. Die Hochbahn macht schon ganz gute Sprünge mit der hvv-switch-App. Es geht darum, ständig im Blick zu behalten: Wo werden die Tickets genutzt? Wie wird ein spezielles Angebot angenommen? Wie müssen wir das Angebot anpassen, damit es interessanter wird? Was können wir noch anbieten, damit die Menschen die Spitzenzeiten im ÖPNV umgehen?  

Da stehen wir noch ganz am Anfang. Anstatt alle zwei Jahre eine Fahrgastbefragung durchzuführen, können uns solche Maßnahmen helfen, einen Realtime-Blick auf die Mobilitätsdaten zu bekommen und auf dieser Basis Entscheidungen zu treffen.  

Meine Hoffnung ist, dass die Post-Corona-Stadt zu einer wirklichen Smart City führt, die eine hohe Lebensqualität bietet und eine Vielzahl an sharing services anbietet. 

 

Durch die Pandemie müssen aktuell viele Flächen in der Stadt beschränkt werden. Welche technologischen Lösungen können uns in Zukunft helfen, begrenzte Kapazitäten besser zu nutzen?

Dieses Thema haben wir schon mit vielen Großveranstaltern diskutiert. Wie können wir den Verkehr bei Veranstaltungen aller Art – von Konzerten bis hin zu Fußballspielen – entzerren? Safe Routing nennen wir das. Wie schaffen wir es, den Einlass bei Veranstaltungen in Zeit-Slots aufzuteilen und den Menschen ein konkretes Bewegungszeitfenster an die Hand geben? Durch die Routing-Anfragen in der Navigation können wir ja schon ziemlich genau berechnen, wer wann wo sein wird. Auf dieser Basis können wir bereits vor der Anfahrt zur Konzerthalle oder zum Stadion eine Besucherlenkung vornehmen: “Du musst jetzt noch nicht losfahren. Es reicht auch, wenn du die U-Bahn drei Minuten später nimmst, weil dein Zeit-Slot erst um 17.30 Uhr beginnt”. Damit vermeiden wir, dass die Menschen alle auf einmal ankommen. 

 

Die Pandemie verschärft die bestehenden sozialen Ungleichheiten. Können interaktive Kartenanwendungen auch dafür eine Lösung sein?

Ich finde es wichtig, eine Transparenz in Bezug auf die SDGs (Sustainable Development Goals) der UN zu schaffen. Die 17 Zielen beziehen sich unter anderem auf Obdachlosigkeit, Armut, Bildung und Wasserqualität. Viele der SDGs haben einen Kartenbezug: Neben dem Thema Verkehr könnte man sich auch Stadtteile unter bestimmten Fragestellungen anschauen, wie zum Beispiel: Wie sehen die sozio-demographischen Verhältnisse dort aus? Wie kann man das auf Karten abbilden? Auf diese Weise können wir überprüfen: Was macht eine Stadt, um auf die SDGs einzuzahlen? Damit können wir den Bürgerinnen und Bürgern vor Augen führen: Wo sind wir gerade unterwegs? Was läuft schlecht in dieser Stadt? Was können wir tun, um die Ziele zu erreichen? Was sind die Schritte, um dahin zu kommen? Ich glaube, je mehr Sichtbarkeit man dafür schafft, desto größer ist auch die Bereitschaft dafür zu kämpfen. Das könnte zu einem Standard für die Stadtplanung werden. 

Ein Beispiel: Wir haben vor ein paar Jahren mit dem Gängeviertel zusammen den Leerstandsmelder entwickelt. Dabei handelt es sich um eine Karte, auf der jeder in der Stadt Leerstände eintragen kann: “Hier neben mir im Haus stehen drei Wohnungen leer”. Zu dem Zeitpunkt gab es eine große Diskussion darum, wie Bezirksverwaltungen die Eigentümer dazu verpflichten können, die Wohnung zu vermieten oder zumindest mit Strafen zu belegen, wenn sie das nicht tun. Da war dieses Thema Sichtbarmachung total essenziell. Innerhalb kürzester Zeit waren in Hamburg über 1000 Orte eingetragen; bald haben über 35 Städte die Plattform genutzt. Da bekommt das Thema Datensammeln oder das Crowdsourcing von Daten eine ganz neue Bewandtnis, die ich sehr wichtig finde. 

 

Wie verändert die Pandemie unsere Sicht als Gesellschaft auf die Zukunft?

Ich denke, dass Stadt-Umland-Beziehungen eine größere Relevanz bekommen werden. Wie können Shared-Mobility-Services auch im Umland dazu beitragen, Pendlerströme zu reduzieren oder zu bündeln? Das ganze Thema Empty Seats Travelling: Wie schaffen wir es – auch wenn das unter Corona-Aspekten schwierig sein mag – mehr Plätze in einem Auto zu belegen? Wir müssen verhindern, dass der Pendlerverkehr stark zunimmt. Dafür brauchen wir dringend mehr Intelligenz in der ganzen Pendlerplanung. Da ist eine große Challenge, bei der ich hoffe, dass Technologien entscheidende Mehrwerte schaffen können. 

An den Autobahnausfahrten im Hamburger Umland gibt es ja häufig Pendlerparkplätze, wo sich Menschen zusammenfinden. Alle fahren mit ihren Autos zu diesem Parkplatz und fahren dann in einem Auto weiter, was ja schon ein großer Fortschritt ist. Ich habe überhaupt keine Vorstellung davon, wie clever das organisiert ist. Welche Möglichkeiten gibt es, diese klassischen Mitfahrbörsen oder Pendlerbörsen durch Technologie neu zu denken? 

 

Was braucht eine Urban Change Academy aus Deiner Sicht? Welche Fähigkeiten sollte sie vermitteln?

Ihr solltet auf jeden Fall die verschiedenen Stakeholder abholen, anhören und verstehen. Was ist deren aktuelle Herausforderung? Wie ist die Situation vor Ort? Das ist aus meiner Sicht ein essenzieller Punkt für das Gelingen eines solchen Vorhabens.  

Auch das Thema Erfahrungsaustausch finde ich wichtig. Insofern finde ich den Gedanken auch total gut, wenn so eine Academy dazu beitragen kann, mehr Vernetzung unter den einzelnen Akteuren zu schaffen und sich davon zu berichten, was man beim nächsten Mal anders machen würde. Oder sich gegenseitig Projekte live vor Ort vorzustellen, die erlebbar zu machen. Und an der Stelle in die Diskussion zu kommen, finde ich einen spannenden Gedanken. Und auch ganz unterschiedliche Anwenderschichten zusammenzubringen. Ich würde mir wünschen, dass eine Academy neue, kontrovers zu betrachtende Projekte, Ideen und Geschäftsmodelle zum Diskurs stellt und sich frühzeitig Feedback von allen Akteuren einholt, zu denen sie im besten Fall einen sehr direkten Kanal aufbauen kann. Das ist aus meiner Sicht eine Plattform, die einen ganz großen Wert für die Städte und ihre Bewohner haben kann. 

 

Welche Themen würden Dich begeistern?

Alles rund um Daten, Datenanalysen und Datenstrategien. Wie können die verschiedenen Akteure in einer Stadt neue Einsichten aus Daten gewinnen, um bessere Entscheidungen zu treffen? Ein wichtiger Punkt ist in meinen Augen der Einsatz von Technologien und das Engagement von Unternehmen: Welche Möglichkeiten gibt es, den “Urban Change” zu gestalten – und wer sind die richtigen Partner dazu? Tools und Feedback sind in diesem Zusammenhang ein spannendes Thema. Ich kann mir gut vorstellen, den Stadtbewohnern neue Tools an die Hand zu geben, um in den Dialog mit der Stadt zu treten: Wo kann ich meine Ideen einbringen? Wo kann ich positives Feedback zu einer Maßnahme geben? Wem sage ich eigentlich, wie glücklich ich über diesen Pop-up-Radweg in der Max-Brauer-Allee bin? Dem Pop-up-Radweg fehlt im Moment einfach noch der Feedback-Kanal. Da würde ich mir in Zukunft mehr Dialog wünschen.  

 

Vielen Dank! 

 

Bildquelle: © Jens Wille