Die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, wie es aussieht, wenn in den Städten kein Leben mehr ist. Dr. Marion Klemme lenkt unseren Blick auf die öffentlichen Räume und ihre notwendige qualitative Weiterentwicklung. Sie leitet das Referat I 2 Stadtentwicklung im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) in Bonn. Das Referat betreibt wissenschaftliche Politikberatung hinsichtlich gesellschaftlicher Entwicklungen und deren Auswirkungen auf die Handlungsebenen Stadt und Stadtquartier.
 

Das Interview mit Marion Klemme fand am 22.09.2020 statt – in Teilen Europas, darunter in Großbritannien, steigen die Corona-Infektionszahlen wieder stark an. In Bayern und Nordrhein-Westfalen werden die Schutzmaßnahmen verschärft. 

 

Urban Change Academy: Die Corona-Pandemie hat uns alle kalt erwischt. Wenn Du auf die letzten Monate zurückblickst, welche Auswirkungen hast Du in Eurer Arbeit gespürt? 

Marion Klemme: Corona hat sich massiv auf unsere Projekte ausgewirkt. Das war uns am Anfang gar nicht so klar, weil man erstmal im Homeoffice saß, und nur versucht hat, alles von dort aus weiterzubetreiben. Man muss dazu wissen, dass wir viele Forschungsprojekte und auch öffentliche Veranstaltungen durchführen. Es war relativ schnell klar, dass eigentlich jedes unserer Projekte von Corona betroffen sein würde. Workshops, Kongresse, Veranstaltungen, Ausstellungen: wir mussten entweder umplanen, verschieben oder unter ganz neuen Bedingungen denken. Das heißt: der Kern unserer Arbeit war und ist betroffen.  

                                                                  

Lass uns über das Thema Innenstadt reden.

Beim BBSR führen wir einen intensiven Diskurs darüber, was während der Pandemie mit den Städten passiert. Wir unterscheiden dabei zwischen Beobachtungen darüber, was aktuell passiert und den übergreifenden Gedanken zur Post-Corona-Stadt. Sprich: wie könnten die Städte in Zukunft aussehen?  

Der Lockdown hat uns allen vor Augen geführt, wie eine Stadt aussieht, wenn dort wirklich kaum Leben mehr stattfindet. Hinzu kommt das Thema Arbeitswelten, allein durch die Homeoffice-Tätigkeit vieler Menschen. In beiden Bereichen schlägt Corona massiv durch.  

Der Anfang des Diskurses war stark normativ geprägt und von unseren Wünschen danach, wie eine Stadt der Zukunft aussehen sollte. Man hat quasi die eigenen Vorstellungen der Zukunft mit der Corona-Diskussion vermischt. Das ging oft an der Realität vorbei, weil wir ja letztendlich am Bestand ansetzen müssen. Ich halte es für wichtig, gerade jetzt viel Analyse sprich Stadtbeobachtung zu betreiben, um überhaupt erstmal zu erfassen, was gerade passiert. 

 

Wichtiger Punkt. Deswegen starten wir tatsächlich auch mit der Frage nach Deinen Beobachtungen. Wenn Du auf das Thema Innenstadt blickst: Was hat sich konkret durch Corona geändert?

Die Innenstädte werden nicht mehr in dem Maße frequentiert, wie vor Corona. Die Kauflust, die Kaufkraft sind nicht mehr in dem Maße vorhanden wie vor Corona. Die Innenstädte – wenn wir Innenstadt im Sinne von Handelsbereichen, Fußgängerzonen, Citybereiche meinen – sind stark dadurch geprägt, dass der Handel nicht mehr so prosperiert wie vor der Pandemie. Die Veränderungen gehen aber weit über den Handel hinaus. Es gibt viel weniger Geschäftsreisen, und das macht insbesondere den Großstädten zu schaffen. Die Hotellerie und die Gastronomie, gerade in der Nähe von Bürostandorten, Messe und Co., sind besonders stark betroffen. Wie wird es hier in Zukunft weiter gehen? Welche Bereiche werden wieder anziehen und welche nicht?  

 

Wir hatten neulich in einem Stakeholder-Prozess die These an die Wand geworfen, dass der Handel in der Innenstadt der Zukunft nicht mehr die Leitfunktion übernehmen wird. Das hat erstmal wenig Reaktion hervorgerufen. Diese These wäre vor ein paar Jahren glaube ich noch deutlich kontroverser diskutiert worden, oder? 

Ja, das denke ich auch – wobei man bei Leitfunktion auch zwischen verschiedenen Stadttypen und Lagen unterscheiden muss. Ich glaube, wir müssen nicht über die Hohe Straße in Köln oder die Mönckebergstraße in Hamburg reden. Am stärksten sind wahrscheinlich die Mittelstädte oder auch die unauffälligen Großstädte betroffen – wie beispielsweise Herne. Sie leiden ganz anders unter der Pandemie als die Metropolen, die vielleicht auch im Handelsbereich noch eine stärkere Anziehungskraft haben werden – auch dann, wenn Reisen wieder möglich ist. 

Ich glaube, dass ein Stück weit Handel übrigbleiben wird – ob seine Leitfunktion bestehen bleiben wird, das würde ich erstmal offenlassen. Auch wenn für den einzelnen Händler eine schwere Zeit kommt und wir mit vielen Schließungen rechnen müssen, ist es für die Innenstadt aus planerischer Sicht ein Gewinn, wenn wieder Nutzungs- und Funktionsvielfalt einzieht: Wohnen, Arbeiten, Gewerbe, urbane Produktion, aber auch öffentliche Einrichtungen wie Bibliotheken, Musikschulen, Jugendzentren. 

 

Beobachten wir durch die Corona-Entwicklung, dass sich die Kluft zwischen den Städten – nicht zuletzt in der Innenstadt – deutlicher zeigt?

Ich denke kurz- bis mittelfristig ja. Doch langfristig hängt die Entwicklung wirklich davon ab, wie sich die Akteure vor Ort neu erfinden: Welche Allianzen können sie schließen, welche neue Koproduktion oder Kooperation eingehen? Vielleicht sind auch Kommunen, die schon länger mit dem Strukturwandel zu kämpfen haben, kreativer und mutiger, neue Sachen einzugehen als die Kommunen, die sich sehr lange auf die prosperierende Innenstadt verlassen haben. Kleine Städte, wie Elmshorn zum Beispiel, die schon vor Corona mit einem Pop-up-Format experimentiert haben, konnten schon ganz andere Erfahrungen sammeln als große Städte, die sich immer auf die großen Player verlassen haben. Auch mit Blick auf die Akteurslandschaften: vielleicht kommen die Menschen im kleineren räumlichen Kontext schneller zusammen, um gemeinsam etwas auf den Weg zu bringen? 

 

Interessant, dass Du das Wort Mut aufgreifst. Das hatten wir bisher in allen Interviews: Wir müssen mutig sein. Es geht darum, zu experimentieren, auszuprobieren und mit Mut Dinge anzugehen. Dieses Wort scheint irgendwie zentral zu sein. 

Wir brauchen wirklich mehr Mut (lacht)! Wenn einem der Mut fehlt, probiert man in der Regel keine neuen Dinge aus. Dabei ist das Neue für die Entwicklung der Innenstädte essentiell. Wir sehen auch, dass bereits vielerorts mit neuen Formaten experimentiert wird. Zum Beispiel: kleine Buchläden bieten Lieferservices an. Es wird ganz viel ausprobiert. 

 

Gibt es noch weitere Beobachtungen zum Thema Innenstadt, die Du mit uns teilen kannst?

Der öffentliche Raum ist für die Innenstädte extrem wichtig. Ich finde, dass die öffentlichen Räume in deutschen Innenstädten – in einigen, sicherlich nicht in allen – in den letzten Jahren vernachlässigt wurden. Das merkt man besonders, wenn man einen Blick in unsere Nachbarländer wie Schweiz, Österreich oder Niederlande wirft. Dort haben öffentliche Räume ein ganz anderes Auftreten als hierzulande. In Deutschland sind die Hauptplätze in der Regel herausgeputzt – geht man aber drei Straßen weiter, dann bröckelt es meistens schon rapide. Es besteht aus meiner Sicht eine große Verantwortung darin, den öffentlichen Raum wieder stärker in den Vordergrund zu stellen, insbesondere, wenn man nicht-konsumorientierte Funktionen in der Stadt ansiedeln will. Der öffentliche Raum braucht Investitionen, gerne auch mit Privaten zusammen. Es sind neue Kooperationen oder Koproduktionen zu finden, um diese Räume anders bespielen zu können.  

 

Welche Rolle spielt die Mobilität dabei? 

Die Mobilitätswende ist ein wichtiger Faktor, weil die Städte oft schon sehr dicht bebaut sind. Fläche ist in der Regel knapp. Wenn man daran denkt, dem motorisierten, privaten Verkehr auch noch einige Flächen zu entziehen – dann sollte man an der Stelle die Chance nutzen, diese Flächen auch mit Blick auf Aufenthaltsqualität, Kulturveranstaltungen, Zusammenkommen von Menschen und Begegnungsmöglichkeiten zu qualifizieren. Wenn man die Menschen nicht mehr durch Shopping in die Innenstadt zieht, dann muss man Begegnungsräume schaffen, in denen sich die Menschen treffen können, die man vielleicht auch kulturell und künstlerisch bespielt. Da müssen viele Bereiche, im Sinne einer integrierten Stadtentwicklung, zusammenspielen.  

 

Wird die Politik längerfristig so weit gehen, dass die Investition in öffentliche Räume Teil eines Konjunkturpaketes im größeren Sinne wird? Alleine mit Blick auf die Gastronomie und Hotellerie.

Es gibt auch seitens der Bundesregierung Bestrebungen, die Innenstädte weiter zu stärken. In vielen Kommunen wäre es jetzt wichtig, kurzfristig Prozesse anzustoßen, um diese Möglichkeitsfenster zu nutzen, die sich gerade öffnen.  

Ich finde, man muss bei allen Maßnahmen aufpassen, dass man keine Strukturen oder Betriebsmodelle fördert und finanziert, die auch ohne Corona in nächster Zeit nicht überlebensfähig gewesen wären, weil sie betriebswirtschaftlich zu knapp kalkuliert sind oder weil die Onlinewelt dazwischenfunkt. Es braucht solide ausgearbeitete Ideen, die uns zeigen, dass ein Kurswechsel für die Innenstädte angestrebt wird. Und gleichzeitig braucht es trotzdem Geld für kurzfristige Experimente und Möglichkeiten, um jetzt die Chancen zu nutzen. Die Schwierigkeit im Augenblick ist, beidem gerecht zu werden kurzfristigen Lösungen und langfristig tragfähigen Strategien. 

 

Glaubst Du, dass das Thema Dichte jetzt oder in Zukunft auf einer ganz anderen, vielleicht auch auf einer grundsätzlichen, fundamentaleren Ebene diskutiert wird? 

In den Diskursen der letzten Wochen fiel immer wieder die Frage: Müssen wir jetzt unsere Leitbilder der dichten, gemischten, kompakten Stadt überdenken? Im Verlauf der Pandemie hat man gesehen, dass nicht die verdichteten Städte für explodierende Zahlen verantwortlich sind. Es waren eher Einzelereignisse wie Familienfeiern, aber auch beengte Wohnverhältnisse in einzelnen Wohnblocks, dass es aber nicht an der verdichteten Stadt per se liegt, dass sich die Pandemie ausbreitet. 

Daher glaube ich, dass die Dichte-Diskussion zwar mehr Aufmerksamkeit erfährt, dass man aber letztendlich jede Stadt im Einzelfall betrachten muss. Man kann die Frage nach der optimalen Dichte nicht pauschal beantworten. Jede Stadt muss ihre Flächen gründlich anschauen und analysieren: Welche Funktion hat sie für den Nahbereich, für das Wohnumfeld, für Klimaanpassung oder auch für mehr Wohnraum? 

 

Wir haben ja ein gemeinsames Projekt: Nachdenken über die Stadt von Übermorgen. Dort haben wir schon häufig darüber diskutiert, wie wichtig es ist, sich intensiv auf die Zukunft vorzubereiten. Welchen Zusammenhang zwischen Corona und dem Thema Zukunft gestalten siehst Du?

Gerade jetzt herrscht in der Planungspraxis und in der Stadtmacherszene eine Aufbruchsstimmung, weil man erahnt, dass demnächst vielleicht auch in zentralen Lagen wieder Flächen zur Verfügung stehen. Ich glaube, dass da in vielen Möglichkeitsfenstern gedacht wird. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass es bei vielen Leuten zu einer Aussichtslosigkeit führt. Dass man das Gefühl hat, nichts mehr gestalten zu können. Jetzt sieht man die Bilder des brennenden Kaliforniens. Es gibt die Pandemie. 

Meine Einstellung ist es, Diskurse anzuregen und sich über Zukunft Gedanken zu machen – aber im Sinne von alternativen Zukünften. Viele fragen, „Wie sieht die Post-Corona-Stadt aus?“ Diese Frage ist für mich eigentlich viel zu eng gefasst, da wir auch andere lokale und globale Herausforderungen meistern müssen. Wir sollten fragen: Wie können wir uns verschiedene Stadtzukünfte und verschiedene Formen des Lebens in der Stadt vorstellen und diese auf verschiedenen Ebenen ausprobieren? Viel ausprobieren und von der Wissenschaft auswerten lassen, sodass möglichst viele Menschen von diesen Experimenten lernen können – das scheint für mich im Moment ein guter Weg. 

 

Du hast vorhin gesagt: Es braucht erstmal eine gute Analyse, es braucht Zeit und es braucht Mut. Das scheinen drei ganz wichtige Faktoren zu sein. 

Ja, das Wichtige ist, die Akteure in den Städten zusammenzubringen, wenn man jetzt etwas auf den Weg bringen will. Da gibt es Stadtmanager, es ist egal, ob das ein Stadtmarketing ist, der Citymanager, der Innenstadtmanager oder der Lotse. Es gibt inzwischen einige erprobte Modelle aus verschiedenen Förderkontexten. Es ist wichtig, diese Prozesse jetzt vor Ort aktiv zu gestalten und dass es Menschen gibt, die das in die Hand nehmen. Und ob das dann jemand privates ist, der gut vernetzen kann oder die Kommune, ist am Ende gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass man jetzt vor Ort zusammenkommt und Allianzen findet. 

 

Ich würde gerne abschließend zum Thema Fähigkeiten kommen – auch mit Blick auf die Urban Change Academy. Was braucht es aus Deiner Sicht an Themen, an Inhalten, die eine solche Urban Change Academy beisteuern könnte, um den Umgang mit Zukunft und auch das Gestalten der Stadt zu verbessern? 

Man muss Menschen Plattformen bieten, damit sie sich leichter austauschen oder auch direkt kleine Projekte angehen können und ihnen die Angst vor formalen Prozessen nehmen. Gerade jüngere Menschen, denen sich diese komplexe, formale Verwaltungswelt oft nur schwer erschließt. Wie kann ich meinen Platz vor der Haustür bespielen? An wen muss ich mich da überhaupt wenden? Welche Auflagen gibt es? Wie kann ich temporäre Interventionen auf den Weg bringen? Hier muss man Wege aufzeigen. Das halte ich mit Blick auf die Zukunft für ganz wichtig. Wir haben uns viel mit informellem Engagement auseinandergesetzt und ich glaube, wenn man das zusammenbringt, die informelle und die formelle Welt, das wäre sehr wertvoll. Das brauchen wir, um Städte oder Plätze anders oder neu bespielen zu können. Es gibt dazu auch einige Initiativen aus dem BBSR. Wir haben vor einigen Jahren eine Freiraumfibel entwickelt, die unglaublich stark nachgefragt wird. Und das ist für mich ein Indikator, dass es nicht nur ein kleines, feines Büchlein ist, sondern dass der Bedarf nach diesem Wissen wirklich da ist. 

 

Vielen Dank!

 

Bildquelle: © Marion Klemme