Wir brauchen ein flexibles, resilientes System, das uns auch über die Corona-Zeit hinaus von Nutzen ist – insbesondere mit Blick auf den Klimawandel –, davon hat uns die Mobilitätsexpertin Dr. Philine Gaffron überzeugt. Sie lehrt und forscht am Institut für Verkehrsplanung und Logistik der Technischen Universität Hamburg. Ihre Schwerpunkte sind soziale und Umweltwirkungen von (Stadt-)Verkehr, Interdependenzen von Verkehr und Raum, Konzepte für nachhaltigen (Stadt-)Verkehr und Umsetzungsstrategien für die Verkehrsplanung. Wir haben mit ihr diskutiert, wie wir mehr Flächengerechtigkeit für verschiedene Nutzungen und unterschiedliche Verkehrsteilnehmende schaffen, welche Rolle Raumqualität dabei spielt und wie wir von theoretischer Bereitschaft zu echter Veränderung kommen.
Das Interview mit Dr. Philine Gaffron fand am 28.09.2020 statt. In den meisten Nachbarländern steigen die Corona-Fallzahlen rasant – in Deutschland ist die Zahl der Neuinfektionen noch vergleichsweise moderat.
Urban Change Academy: Vor welche Herausforderungen stellt die Corona-Pandemie das Verkehrssystem?
Philine Gaffron: Viele Menschen haben ihr Mobilitätsverhalten wegen der Pandemie verändert. Sie sind weniger oder anders unterwegs. Die öffentlichen Verkehrsmittel werden leerer, der öffentliche Raum wird anders genutzt. Es hat spontane Reaktionen gegeben wie die Anpassung von ÖV-Fahrplänen oder Pop-up-Radwege. Die sind jedoch meist temporär. Aber auch wenn sich die aktuelle Notlage wieder ändert, gibt es keine Garantie dafür, dass es nicht zu weiteren Pandemien kommt. Deswegen brauchen wir erstens ein flexibles, resilientes System, das uns auch über die Corona-Zeit hinaus von Nutzen ist. Und zweitens müssen wir gleichzeitig ganz dringend weiter den Klimaschutz voranbringen.
Im Hinblick auf Resilienz geht es darum, möglichst große Sicherheit für alle zu schaffen. Auch für die, die keinen eigenen PKW besitzen. In Städten wie Hamburg haben bis zu 50 Prozent der Haushalte kein eigenes Auto – diese Menschen müssen sich auch jederzeit möglichst sicher bewegen können – sicher vor Unfällen und sicher vor Infektionsrisiken. Dafür brauchen wir die Erkenntnisse der Forschung: Welche fundierten Empfehlungen kann man den Menschen geben, so dass sie ihr Mobilitätshandeln und ihre Nutzung des öffentlichen Raums strukturieren können? Dafür muss es dann auch die nötigen Angebote geben.
Wir leben in unsicheren Zeiten. Wie geht die Verkehrsplanung damit um?
Die Werkzeuge, die wir brauchen, um mit solchen Situationen umzugehen, sind zu einem großen Teil ja schon da. Die Stichworte sind Multimodalität und Mobility-as-a-Service. Wie wir die verschiedenen Angebote am besten kombinieren – dazu gibt es noch einiges auszuprobieren, zu lernen, umzustrukturieren, besser zu organisieren. Im Moment geht es aber vor allem darum, diese Bereitschaft zur Dringlichkeit, die wir in der Corona-Zeit entwickelt und gelebt haben – wir müssen jetzt sofort Dinge verändern, weil uns eine Krankheit als Gesellschaft bedroht – diese Bereitschaft müssen wir aufrechterhalten und in Bezug auf den Klimawandel nutzen, ohne in Panik und Angststarre zu verfallen.
Wir müssen auf das aufbauen, was wir im Bereich Mobilität und lösungsorientierter Finanzierungsintrumente möglich gemacht haben, was wir zumindest in kleinen Ansätzen gesehen haben. Und auch neue Impulse denken: Wir reden meistens über Städte, Innenstädte und dicht bebaute Siedlungsräume. Aber die Themen betreffen ja auch die Umlandgemeinden von großen Städten, den ländlichen oder weniger dicht besiedelten Raum. Und auch die Beziehungen zwischen diesen Räumen. Wie kommen die Leute unter Corona-Bedingungen in die Stadt? Wie entwickeln sich Pendlerverflechtungen? Und was sind klimafreundliche Lösungen? Wir sollten uns die Umlandgemeinden unter dem Vorzeichen anschauen, was dort gebraucht wird. Die Chancen stehen gut, dass sich dann auch neue lokale Strukturen etablieren, wie etwa andere Konzepte der Nahversorgung oder Co-Working-Spaces. Und wenn der Öffentliche Verkehr das Rückgrat der neuen Mobilität werden soll, brauchen wir überall ein gutes Zusammenspiel von traditionellen Angeboten und neueren Sharing-Verkehrsmitteln unterschiedlichster Art – sowohl auf räumlicher als auch auf zeitlicher Ebene.
Du bist ja eine aktive Stadtbewohnerin. Welche Veränderungen siehst Du im Bereich Stadtleben und Kultur?
Wie so viele andere auch, mache ich mir Sorgen um die kulturelle Vielfalt, gerade um kleinere Anbieter, unabhängige Kinos, kleinere Musikclubs, die vom täglichen Publikumsverkehr leben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Vielfalt mit den jetzigen Vorgaben und Möglichkeiten erhalten bleiben kann, selbst wenn in dem Bereich gerade sehr viel digitale Angebote entstehen. Im Sommer war es außerdem kein großes Problem, Gastronomie nach draußen zu verlegen aber wie gehen wir im Winter damit um? Wie schaffen wir es außerdem, dass Menschen sich – unabhängig von kommerziellen Angeboten – gefahrlos unter freiem Himmel treffen können? Da haben wir ja eine zunehmende Nachfrage gesehen. In südeuropäischen Ländern ist das mit Sicherheit ein bisschen einfacher, weil die Witterungsbedingungen andere sind. Aber auch in Nord- und Mitteleuropa möchten wir ja weiter ein öffentliches Leben haben, zusammenkommen, Kneipen, Restaurants und Bars nutzen. Wie lösen wir dann aber zum Beispiel die Lärmproblematik in Wohnquartieren?
Heißt das, dass wir öffentliche Räume neu verteilen und gestalten müssen?
Ja, und das auch nicht nur wegen der Folgen der Corona-Pandemie. Das ist ein Thema, das wir im Kontext der Mobilitätswende schon sehr lange diskutieren, einfordern, teilweise auch mal ausprobieren, aber an vielen Stellen eben noch längst nicht weit genug vorangebracht haben: die Umverteilungen, die Flächengerechtigkeit für die verschiedenen Verkehrsträger und die verschiedenen Nutzungen – Mobilität, Aufenthalt und Begegnung, Kultur und Gastronomie, Bäume und Grünflächen. Das müssen wir noch stärker durch die Brille der Raumqualität betrachten; nicht nur, weil sie zu gutem städtischen Leben dazugehört, sondern weil sie Möglichkeiten bieten kann, die man in so einer Extremsituation braucht. Damit weiter zu kommen, das ist auf jeden Fall eine ganz, ganz dringende Aufgabe. Und dafür brauchen wir erstens gute Ideen, die schnell umsetzbar sind. Und zweitens brauchen wir Entwicklungspfade: Das schaffen wir in den nächsten fünf, den nächsten zehn Jahren. Wir können nicht 20 Jahre warten bis neue Quartiere mit neuen Mobilitätsstrukturen und neue Schienenstrecken gebaut werden, sondern wir müssen den Bestand in den Fokus rücken: Wie kriegen wir das so umstrukturiert, dass es den neuen Anforderungen genügen kann? Und eben auch dem Klimaschutz dient. Und der Resilienz gegen die Klimaveränderungen, die wir jetzt schon erleben.
Du sprichst davon, schnell gute Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Auf welcher Ebene muss das denn stattfinden? Wo siehst Du Handlungsbedarf?
Umsetzen muss es natürlich jede Kommune für sich – in dem Rahmen, den Bund und Länder definieren. Ich werde in dem Zusammenhang oft nach guten Beispielen gefragt: Wie hat das denn geklappt in Paris, Madrid, Kopenhagen, Amsterdam, Utrecht und Groningen? Das Bewusstsein dafür, dass sich etwas verändern muss ist schon recht groß, aber viele Kommunen wissen nicht so genau, wie sie dahin kommen; es fehlt die Erfahrung. Dafür wäre es hilfreich, Entscheidungsprozesse gut zu dokumentieren – nicht nur, was gemacht wurde, sondern auch, wie es dazu kam. Wie hat die Stadt es geschafft, bestimmte Entscheidungen gemeinsam zivilgesellschaftlich und politisch zu treffen? Ob das jetzt die Umwidmung von Straßen ist oder die Entscheidung, ab 2025 bestimmte Antriebsarten wie Verbrennungsmotoren, aus den Innenstädten zu verbannen. Hinzu kommt, dass es den Behörden oft auch an Personal fehlt.
Nicht zuletzt ist es aber auch eine zivilgesellschaftliche Aufgabe, Veränderungsprozesse zu unterstützen. In Umfragen lesen wir immer wieder: „Ja, natürlich wollen wir Veränderung“ und „Ja, Klimaschutz ist wichtig“, und „Ja, wir wollen eine andere Mobilität und weniger Lärm und gesündere Städte“. Dafür muss sich dann aber auch etwas ändern. Wir müssen die Lücke zwischen Strategie und Umsetzung, zwischen Erkenntnis und Handeln, zwischen Werten und Realität schließen. Der Wille zur Veränderung – das ist etwas ganz, ganz Wichtiges. Aber wenn Menschen dann das Gefühl haben, dass sie nicht mitentscheiden können, dann gibt es Ängste, Sorgen, Widerstand – nicht immer begründet, aber dennoch ernst zu nehmen. Das sind Aspekte, mit denen wir umgehen müssen und dafür braucht es zielgerichtete Information und Dialog.
Reden wir über das Thema Arbeiten und Produzieren. Viele sind der Meinung, dass das Homeoffice bleiben wird. Siehst Du das auch so? Welche Folgen hat das für das Mobilitätsverhalten?
Ja, das sehe ich auch so, gerade in Bezug auf Dienstwege und Geschäftsreisen. Für viele wird sicher auch in Zukunft wesentlich mehr über digitale Medien stattfinden. Aber Homeoffice ist nur toll, wenn man einen ruhigen Arbeitsplatz, einen guten Internetanschluss und einen Laptop hat – aber das ist ja längst nicht bei allen der Fall. An dieser Stelle können Co-Working-Spaces helfen, die dezentrale, flexible Arbeitsplätze für Menschen bieten, die nicht jeden Tag lange Strecken zur Arbeit zurücklegen wollen und müssen. Für die Mobilität bedeutet das: es wird weniger gependelt. Und es wird vermutlich weniger – oft teure – Geschäftsreisen geben. Was man aber auch im Auge behalten muss, sind die psychosozialen Auswirkungen. Vielen fehlt der echte soziale Kontakt. Und natürlich gibt es sehr viele Jobs, die gar nicht nach Hause zu verlegen sind. Also: wie können wir das in Zukunft optimal organisieren?
Droht uns eine Zweiklassengesellschaft? Die einen tummeln sich frei in der New-Mobility-Welt, die anderen sind weiterhin auf ihr Auto angewiesen? Gleiches gilt für das Thema New Work: einige erleben das Homeoffice als positive Veränderung, anderen haben nicht einmal die Möglichkeit dazu.
Ich befürchte durchaus, dass die Unterschiede größer werden könnten. Dem entgegenzuwirken, das ist mit Sicherheit auch eine Aufgabe für das Stadtmachen, für die Stadtgestaltung und natürlich für die Verkehrsplanung. Dafür muss sich strukturell etwas verändern. Wer viel im Homeoffice arbeitet, braucht im persönlichen Umfeld, im öffentlichen Raum, die Möglichkeit, Begegnungen zu erleben. Das ist ganz wichtig. Strukturelle Veränderungen brauchen wir aber auch im Bereich der Arbeit. Denn arbeiten, produzieren, konsumieren – das hängt alles zusammen. Welche Erwartungen haben wir, welche sind berechtigt, welche müssen wir ändern? Welche Kreisläufe sind sinnvoll und machbar? Da geht dann das Thema Pandemiegesellschaft nahtlos über in Nachhaltigkeitsansprüche aus dem Bereich Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, globale Wirtschaftskontexte. In vielen Dingen müssen wir wieder lokaler werden. Da spielt die Stadt natürlich eine ganz große Rolle.
Welche Themen muss eine Urban Change Academy aus deiner Sicht aufgreifen?
Für mich sind Kommunikation und Beteiligung große Themen. Wie rede ich mit Menschen über bestimmte Themen, ohne sie zu verängstigen? Wie nimmt man sich gegenseitig mit? Wie kommt man von theoretischer Bereitschaft zu echter Veränderung? Wie geht man mit Fundamentalopposition um? Da spielt die Psychologie eine große Rolle: Wie bringt man Menschen dazu, Wandel, Change, zu wollen, zu akzeptieren, damit konstruktiv umzugehen? Das gilt natürlich auch für die Politik. Darüber würde ich gerne mehr lernen, weil ich es oft als schwierig erlebe.
Das Thema Mobilität löst ja bei vielen relativ starke Gefühle aus, da kommen rationale Argumente oft nicht mehr an. Wie man da die Perspektive wieder weitet, das fände ich sehr spannend. Das gilt besonders für die neuen Formen des Diskurses: soziale Medien beeinflussen die Diskussion insbesondere, wenn sich bestimmte Strömungen in Echoräumen verstärken. Das ist nicht immer konstruktiv. Und da stellt sich die Frage: Wie gehe ich als Stadtmacherin damit um, egal ob ich in einer Behörde, in einem Büro oder in der Wissenschaft arbeite? Wieviel davon muss man ernst nehmen? Was kann man sich konstruktiv einmischen? Da denken wir oft noch zu sehr in traditionellen Kommunikationskanälen, glaube ich.
Vielen Dank!
Bildquelle: © Eva Häberle