In diesem Jahr verleiht die EU-Kommission zum ersten Mal den European Capitals of Inclusion and Diversity Award. Die Auszeichnung macht europäische Städte, Kommunen oder Regionen sichtbar, die sich besonders für Integration und Vielfalt einsetzen. Damit ist sie Teil des Aktionsplans der Kommission zur Bekämpfung von Rassismus und zur Gleichstellung von LGBTIQ-Personen. Der Preis orientiert sich daher an den im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) genannten Diskriminierungsmerkmalen: Er würdigt bewährte Verfahren, die Diversität (in Bezug auf Geschlecht, Alter, Behinderung, LGBTIQ-Identität, Religion und ethnische oder rassische Herkunft) fördern, heißt es in den Wettbewerbsregeln. Im Jahr 2022 vergibt die EU außerdem einen Sonderpreis für Kommunen, die die Integration der Roma fördern.
Die Suche nach der Diversity Capital hat einen blinden Fleck: die soziale Herkunft
So weit, so gut. Was wir in dieser Auflistung von Diskriminierungsmerkmalen jedoch vermissen, ist die soziale Herkunft, das Einkommen, der Erwerbsstatus – oder schlicht die Klasse. Klassismus, also die Diskriminierung von Personen aufgrund ihres sozialen Hintergrunds, betrifft zum Beispiel Erwerbslose, Wohnungslose oder einkommensarme Menschen – und überschneidet sich dabei häufig mit anderen Diskriminierungsformen wie etwa Rassismus. Obwohl sich Deutschland gerne als Land der Chancengleichheit versteht, erleben viele Menschen in ihrem Alltag klassistische Diskriminierung: in der Schule oder Universität, im Justizsystem – wenn unbezahlte Bußgelder zu Haftstrafen führen wie der jüngste Böhmermann-Coups rund um das Schwarzfahren aufdeckt –, bei Behördengängen oder auf dem Job- und Wohnungsmarkt. Wie der Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes von 2021 belegt, werden viele ALG-II beziehende Menschen bei der Wohnungssuche offen abgelehnt – trotz gesicherter Kostenübernahme durch das Jobcenter.
Wir meinen: Da geht noch mehr!
Die Corona-Pandemie hat die soziale Ungerechtigkeit noch verstärkt. Dennoch wird die soziale Herkunft bei der Diskussion um Diversität oft vergessen – sie ist ein blinder Fleck. Sie taucht weder im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) als Diskriminierungsmerkmal auf, noch findet sie Berücksichtigung bei der derzeitigen Suche nach Europas #DiversityCapitals. Dabei gibt es da draußen viele innovative Projekte, die der Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft etwas entgegensetzen. Große Städte wie Helsinki etwa gehen mit Housing First für Wohnungslose mit gutem Beispiel voran. Stephan Karrenbauer, politischer Sprecher beim Hamburger Straßenmagazin Hinz & Kunzt, hat uns im Interview erklärt, wie das funktioniert:
Wohnungslose bekommen bedingungslos eine Wohnung. Wenn sie dann Hilfe brauchen, stehen wir bereit. Im Augenblick läuft es aber genau andersrum. Die Wohnungslosen bekommen eine Wohnung, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen: Sie müssen ihre Schulden regulieren, Ärzte aufsuchen und ihre Zähne sanieren lassen. Sie müssen sich in einer vorübergehenden Wohnung gut verhalten, dann bekommen sie irgendwann den Mietvertrag auf ihren Namen. Dadurch werden sie klein gemacht.
Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter und politischer Sprecher von Hinz & Kunzt
Housing First ist nur ein Beispiel dafür, wie Städte inklusiver werden und Diversität fördern können. Und wie wichtig Vielfalt für das Stadtleben ist, ist in unserer Crowdsourcing-Aktion in der Pandemie mehr als deutlich geworden. Dazu tragen auch konsumfreie Orte bei, solidarische Hilfsangebote, wie z.B. kostenfreie Duschen für Wohnungslose, bezahlbarer Wohnraum, kostenlose digitale Lernbetreuung für Schüler*innen und ein niedrigschwelliges Kulturangebot. Ein Award, der auch solche antiklassistischen städtischen Innovationen würdigt – das wäre wahrlich divers.
Bild: Europäische Kommission