Mitra Kassai ist ein alter Hase in der Hamburger Musik- und Kulturlandschaft. Die gebürtige Münchnerin hat früher Hip-Hop-Legenden wie 5 Sterne Deluxe gemanaged, sitzt jetzt im Vorstand von Rock City e.V., einem Verein zur Förderung junger Musiker*innen, und ist Beirätin der Millerntor Gallery. Als Gründerin der gemeinnützigen Initiative Oll Inklusiv organisiert sie seit 2017 Events für „Senioren und Senioritas“ – von Ausflügen in die Clubs der Stadt über Streetart-Rundgänge bis hin zu Musikbingo und Graffiti-Workshops. Wie Städte altersfreundlicher werden, warum uns die Pandemie lehrt, dass mehr Flexibilität in Entscheidungsprozesse einziehen muss und was ein Rollschuhverleih damit zu tun hat, hat uns die Tausendsasserin im Gespräch verraten.
Das Interview mit Mitra Kassai fand am 04.12.2020 statt – knapp zwei Wochen vor dem zweiten Lockdown in Deutschland.
Urban Change Academy: Wie erlebst Du die Corona-Pandemie persönlich?
Mitra Kassai: Ich erlebe die Pandemie als sehr arbeitsintensiv, weil ich viel in Senioreneinrichtungen unterwegs bin. 2019 habe ich durch meine Arbeit mit Oll Inklusiv für mein soziales, innovatives Handeln von der Stadt Hamburg den Annemarie-Dose-Preis verliehen bekommen. Von dem Preisgeld habe ich eine Fortbildung zur Seniorenassistenz gemacht. Das bedeutet, dass ich direkt an die Senioren und Senioritas, wie ich sie bei Oll Inklusiv nenne, herantreten kann. Meine Aufgabe ist es, sowohl in der Einzel- als auch in der Gruppenbetreuung für gute Laune zu sorgen und einfach da zu sein – ob durch Telefonanrufe, Einkaufshilfe oder sonstiges.
Ich komme aus dem Musik- und Kulturmanagement. Bisher war das Verhältnis meiner beiden Tätigkeiten so fifty-fifty; mittlerweile sind es eher 95 Prozent Oll Inklusiv. Dadurch, dass die Musik- und Kulturlandschaft komplett auf Pause gesetzt ist, sind die letzten 25 Jahre meines beruflichen Daseins praktisch nicht mehr existent. Und das macht natürlich psychisch etwas mit mir.
Du machst viele Ausflüge mit den Senioren und Senioritas. Was hat sich für Dich im Kontakt mit den Menschen geändert?
Was mir in der Phase zwischen dem ersten und dem zweiten Lockdown sehr gefehlt hat fällt unter die Rubrik „Persönliches“: die Umarmung. Man merkt, dass man körperliche Begrüßungsmodalitäten einfach neu erlernt hat. Ob es der „Fußkick“ ist, der “Ellenbogentatscher” oder einfach nur mal winken und „Moin“ sagen. Diese körperliche Distanz, die wir wahren müssen, das macht einfach was mit einem im Kopf.
Und räumlich gesehen habe ich darauf geachtet, dass die Angebote von Oll Inklusiv draußen stattfinden. Wir hatten großes Glück, weil wir einen schönen Sommer hatten. Ich habe zum Beispiel im Freien Graffiti-Workshops angeboten oder auch Streetart-Rundgänge für die Senioren und Senioritas. Zukünftig werden wir Rikscha-Fahrten einführen – R’OLL on nennen wir das Format – und setzen das in Kooperation mit der Hamburger Fahrradgarderobe und dem Verein Radeln ohne Alter um.
Ich war mit Oll Inklusiv auch in anderen Städten eingeladen, zum Beispiel in München. Da gab es das Projekt Kunst im Quadrat, eine ganz tolle Aktion. Dort wurden verschiedene Künstler gebeten, etwas zu performen: DJs haben aufgelegt, es gab Tänzer, Capoeira– und Fotografie-Kurse. Alles hat draußen auf der Fläche der Theresienwiese stattgefunden. Da war ich mit Oll Inklusiv zu Gast und habe Musikbingo gemacht. Ich habe unser Format Halbpension einfach ins Freie gebracht und das, was jetzt nicht möglich ist, durch Programmpunkte ersetzt, die umsetzbar sind. Was ich damit sagen will: Man darf nicht immer so frustriert sein und sagen, „oh nein, geht nicht, mache ich nicht“, sondern man muss auch kreativ und innovativ denken und sich anpassen.
Was war denn in den letzten Monaten rund um die Pandemie für Dich die überraschendste Erkenntnis?
Dass Verunsicherung in meinem Leben so schnell so einen großen Platz einnehmen kann. Ich bin ein sehr neugieriger und sehr mutiger Mensch. Ich merke aber, dass durch diese Pandemie viel Unsicherheit entsteht. Das fängt beim Maske tragen an und hört beim Impfen auf, und dazwischen ist eine ganze Menge: ob Gastronomieschließung, Abstandhalten, Hygienemanagement, all diese Dinge. Mal kann etwas wieder stattfinden, dann können die Clubs wieder nicht aufmachen. All das führt zu einer Verunsicherung, weil man nicht weiß, wie es weitergeht. Und diese Verunsicherung, die macht was mit einem. Ich möchte dadurch nicht meinen Mut verlieren. Meinen Mut, Dinge zu verändern, um die Gesellschaft weiterhin zu einer besseren zu machen.
Welche Folgen hat die Pandemie Deiner Meinung nach für das Stadtleben und die Kultur?
Der Zweck von gastronomischen Angeboten ist momentan: Ich gehe los und hole mir Essen, weil ich Hunger habe. Aber eigentlich ist essen gehen ja ein gesellschaftliches Miteinander: ob ich jetzt ein Business-Mittagsessen organisiere oder mit Freunden abends essen gehe, ob ich ein romantisches Dinner oder ein Blind Date habe oder ob ich einen Club besuche, weil ich da die Leute cool finde. Dieses gemeinschaftliche Zusammenkommen in der Gesellschaft, das fehlt. Und dafür ist die Gastronomie die Plattform.
Was ich auch nicht verstehe: Warum dürfen die Streetfood-Märkte nicht boomen? Letztendlich bieten die ja genau das an, was gewünscht ist: Man kann sich mit Abstand anstellen. Die hätten meiner Meinung nach viel mehr Förderung und Unterstützung von der Stadt verdient. Man hätte Parkplätze sperren und für Streetfood-Märkte nutzen können, so dass die sich beispielsweise vor Bürokomplexe stellen können. Man sollte den Leuten nicht so viele Steine in den Weg legen. Man hätte sie auch an Marktplätzen platzieren können – es gibt ja die Wochenmärkte. Warum erlaubt man dann nicht einfach mal in der „Grauzone“ Foodtrucks, dort Essen zu verkaufen?
Also mehr Flexibilität in der Nutzung von Flächen?
Ja, beziehungsweise mehr Flexibilität bei der Genehmigung. Die „Grauzonen“ hätte man zu „Grünzonen“ machen sollen. Ein Beispiel: Mein Mann und ich haben uns vor zwei Jahren ein Hobby gegönnt. Wir haben einen alten 70er Jahre Step Van gekauft und von außen schön gestalten lassen von Stuka, einem Street Art Künstler. Und in diesem Step Van befinden sich über hundert Paar Rollschuhe. Wir sind ein mobiler Rollschuhverleih und haben damit die ganze Rollschuh- und Skateszene ein bisschen nach oben gepusht. Das boomt aktuell total.
Und wir wollten immer schon hier in dem Hamburger Park Planten un Blomen stehen. Dort einfach die Türen aufmachen und dann loslegen und Rollschuhe verleihen. Und die Stadt hat überhaupt nicht reagiert. Ich habe auf höchsten Stellen überall hingeschrieben. Das hat sich ungefähr fünf Jahre hingezogen. Wir haben einfach ins Leere kommuniziert, weil sich keiner zuständig gefühlt hat.
Als dieses Jahr dann die Freigabe von dem neuen Bodenbelag kam, hat sich die zuständige Dame von Planten un Blomen direkt bei mir gemeldet. Und dann nicht mehr per E-Mail, sondern gleich über WhatsApp und dann hatten wir innerhalb von 24 Stunden die Genehmigung. Dann denke ich mir: „Ja, okay, geht ja scheinbar“. Man muss vielleicht manchmal nur wollen. Dafür sind wir sehr dankbar.
Was müsste denn gemacht werden, dass solche Ideen für temporäre Nutzungen einfacher an die Stadt herangetragen werden können und auch Aussicht auf eine Umsetzung haben?
Vergleichen wir es mal mit der freien Wirtschaft: Wenn ich ein Problem habe, dann schreibe ich das Unternehmen an und bekomme ein sogenanntes Ticket aufgemacht. Und dieses Ticket muss dann innerhalb von soundso viel Stunden bearbeitet sein – damit ich als Kunde treu bleibe.
Ich habe jetzt aktuell einen Förderantrag bei der Stadt Hamburg abgegeben. Den Förderantrag habe ich erstmal suchen müssen. Dann war unklar, wo schicke ich den überhaupt hin? Dann musste ich den Antrag ausdrucken, weil ich ihn unterschreiben sollte. Dann wollte ich ihn zum Rathaus bringen, um ihn persönlich abzugeben. Dort bin ich am Empfang abgewimmelt worden. Ich solle den Brief wegen Corona einwerfen, das heißt, ich hätte ihn auch mit der Post schicken können. Dann habe ich drei Wochen lang nichts gehört, wusste nicht, ob überhaupt was eingegangen ist – also diese Ticketeröffnung, die man aus der Wirtschaft kennt, ist überhaupt nicht passiert. Dann bekomme ich eine E-Mail, dass ich dieses und jenes noch nachzutragen hätte. In der Zwischenzeit kriege ich aber einen Anruf von einer anderen Person aus dem Rathaus: „Ich würde Sie bitten, dass Sie mir eine E-Mail schreiben und von der Antragstellung zurücktreten, denn wir haben keine Gelder mehr. Wenn Sie nicht schreiben, dass Sie den Antrag freiwillig zurückziehen, dann muss ich ganz viel Bürokratie aufwenden, um den abzulehnen“. Also: Sie ruft mich an, um mir zu sagen, dass sie keine Arbeit haben wollen aber ich kriege keinen Support. Da habe ich mir gedacht: „Holla die Waldfee“! Würde sowas bei einem Unternehmen passieren, dann wäre ich doch in drei Sekunden weg. Es scheitert also nicht nur an den bürokratischen Hürden und den komplizierten Verfahren. Die Prozesse sind auch wahnsinnig intransparent und nicht nachvollziehbar.
Was würdest Du Dir noch wünschen?
Dass man im Nachgang eine Bewertung abgeben darf: Sind Sie zufrieden gewesen mit unserer Bearbeitung, ja, nein, warum nicht oder so ähnlich. Diese Kundenservicebewertungen, wie wir sie alle kennen, gibt es bei der Stadt einfach nicht.
Sprechen wir mal über das Nachtleben. Was erwartest Du Dir für die Zukunft?
Ich finde es krass, dass das Nachtleben komplett stillsteht. Gerade die Club-Branche und die Gastronomie waren die ersten, die mit wirklich funktionierenden Hygienekonzepten um die Ecke kamen. Ob es jetzt der Hygienemanager oder der Hygienemaster ist: diese Zusatzausbildung kostet sechshundert Euro aufwärts und viele haben sich ausbilden lassen. Die ganzen Clubs haben sich zusammengeschlossen über Club-Stiftungen oder andere Institutionen und haben geguckt, wie man Corona-konforme Angebote schaffen kann: ob es sitzend ist, mit Abstand oder draußen – und trotzdem darf nichts stattfinden. Das finde ich sehr frustrierend. Das macht eine ganze Branche kaputt.
Und was ich schade finde, ist, dass es in der Gesellschaft bei Musik, Kunst, Kultur und Partys immer heißt: „Ihr wollt euch ja nur amüsieren“. Man darf nicht vergessen, wie wichtig das alles für die gesellschaftliche Denke in einer Stadt ist, auch überregional. Durch Musik, Kunst, Kultur verändern wir ja auch die Welt. Wir wollen ja auch Messages rüberbringen. Und Musik ist nicht nur eine Emotion, die im Nachtleben lebt, sondern Musik gibt Denkanstöße. Musik, Kunst und Kultur braucht die Stadt, um sich zu verändern. Städte sind ja nicht umsonst durch ihre Musiker und Künstler geprägt. Man erkennt, ob es Hamburg ist, ob es Berlin ist, ob es Kassel ist. Künstler, Musiker, Kreative: die prägen Städte durch ihren kreativen Output.
Ich hoffe schon, dass es weitergehen wird. Vielleicht werden wir eine andere Art des Feierns, eine andere Art des Kulturerlebens finden müssen. Wir müssen dranbleiben und uns neue Dinge ausdenken. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass das Nachtleben wieder aufleben wird, weil wir das alle brauchen und wollen. Nachts sind die Eulen am kreativsten.
Zeichnet sich schon etwas Neues ab? Was beobachtest Du?
Ich glaube, wir sind alle gesundheitsbewusster, wir sind alle aktiver geworden. E-Bikes sind, glaube ich, so teuer wie noch nie. Das ist unfassbar. Rollschuhe sind ausverkauft, Skateboard fahren ist wieder total in, die Leute gehen viel joggen, sich draußen bewegen. Eine Stadt entsteht durch Bewegung. Ob es Häuser abreißen und aufbauen ist, ob es von A nach B gehen oder mit der U-Bahn von A nach B fahren ist, eine Stadt lebt von Bewegung, und die Menschen bewegen sich sehr viel.
Und deswegen werden sich Stadtbilder neu formen. Es könnten zum Beispiel wieder mehr Skateparks entstehen oder Basketballplätze neugestaltet werden. Wenn man mal durch die Parks dieser Stadt geht – da könnte man echt mal aufräumen. Da stehen teilweise total verrottete Parkbänke. Es gibt Spielplätze, die sehen aus, als wären sie von 1912. Man könnte die Außengestaltungen komplett neu denken: Warum gibt es keine vernünftigen Grillplätze? Man könnte doch in Parks super Grillstationen vermieten. So ähnlich wie bei Festivals: Wenn man campt, muss man Pfand zahlen und das kriegt man nur zurück, wenn man seinen Campingplatz vernünftig hinterlässt. Man könnte auch, wie in England, im Park Stühle vermieten. Warum kann man nicht mal so Liegestühle–Vermietungen machen und die Vermieter achten darauf, dass die Wiesen sauber sind?
Welche Fähigkeiten helfen Dir in der Corona-Situation? Gibt es eine Fähigkeit, die Du neu gelernt hast?
Ich habe vor allem gelernt, geduldig zu sein. Ich hasse Geduld. Geduld und ich sind keine Freunde, nie gewesen. Und wir tun uns immer noch ein bisschen schwer. Aber ich habe mal so ein Kilo Geduld gekauft, von dem zehre ich immer noch. Und was man in dieser Zeit unbedingt sein muss, ist flexibel. Aber das war ich schon immer. Viele Leute, habe ich gemerkt, müssen Flexibilität erst lernen. Das ist ganz, ganz wichtig. Sich in einer Stadt zu bewegen, bedeutet auch, eine gewisse Flexibilität mitzubringen – dadurch kann etwas entstehen.
Was sollten wir mit der Urban Change Academy unbedingt adressieren? Was würdest Du Dir für Dich selbst wünschen, für Hamburg, für die ganze Welt?
Was ich mir natürlich aus meinem Arbeitsfeld wünsche ist: Jung und Alt begegnen sich auf Augenhöhe – dass man die Städte altersfreundlicher macht. Das heißt, wir müssen auf ältere Menschen nicht nur Rücksicht nehmen, sondern sie besser in das Stadtleben inkludieren. So, wie wir es bei Oll Inklusiv auf eine ganz moderne Art machen. Ein Senior braucht nicht unbedingt immer nur Hilfe; ein Senior ist einfach nur ein Mensch, der vielleicht langsamer ist oder der Platz braucht, weil er einen Rollator hat. Das würde ich mir wünschen: ein altersfreundlicheres Stadtbild mitzuprägen. Dazu gehört zum Beispiel, dass man Parkbänke mit höherer Sitzfläche aufstellt, damit die älteren Menschen besser aufstehen können. Viele Dinge des Alltags kann man weiterdenken, so dass man alltagsfreundlicher gegenüber Senioren ist. Auf diese Weise schaffen wir ein inklusives Stadtbild auf Augenhöhe.
Vielen Dank!
Bildquelle: © Jonas Krantz