Als Koordinatorin für die Mobilitätswende macht Kirsten Pfaue Hamburg fit für die Zukunft. In der Behörde für Verkehr und Mobilitätswende (BVM) steuert sie alle Aktivitäten rund um die Verkehrswende mit dem Ziel einer deutlichen Stärkung des Umweltverbundes. Die Juristin war Vorsitzende des ADFC Landesverbands Hamburg und ist aktuell Mitglied des Beirates Radverkehr und des Dialogforums Nationaler Radverkehrsplan des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) sowie des Verwaltungsrats des Hamburger Landesbetriebs für Verkehr (LBV). Wie die Pandemie die Kräfteverhältnisse auf den Straßen umgekrempelt hat, wie wir Innenstädte beleben können und warum die Corona-Krise danach verlangt, dass wir uns als Gesellschaft über unsere gemeinsamen Werte verständigen, hat Kirsten Pfaue in unserem Gespräch ausgeführt.
 

Das Interview mit Kirsten Pfaue fand am 21.01.2021 statt. Die Zahl der neuen Corona-Infektionen sinkt langsam aber stetig. Nach wie vor hoch sind jedoch die täglich gemeldeten Covid-19-Sterbefälle. 

 

Urban Change Academy: Wie erleben Sie die Corona-Pandemie persönlich? 

Kirsten Pfaue: Die Pandemie empfinde ich als eine unglaubliche Herausforderung, insbesondere für alle organisatorischen Abläufe. Meine Tätigkeit als Koordinatorin für die Mobilitätswende in Hamburg besteht vor allem darin, Menschen zusammenzubringen. Dazu gehört, entstehende und bestehende Konflikte zu lösen, Ideen zu entwickeln und Menschen für neue Vorhaben zu begeistern. Die Gemengelage aus Homeoffice und all den mit der Pandemie verbundenen persönlichen Krisen macht meine Arbeit auf jeden Fall herausfordernder. 

Wie hängen Pandemie und Verkehrswende zusammen? 

Ich nehme die aktuellen Entwicklungen als sehr widersprüchlich wahr. Unter Pandemie-Bedingungen weiterhin mit einer Vielzahl von Akteuren konstruktiv zusammenzuarbeiten bedeutet für uns alle eine große Kraftanstrengung. 

Trotzdem war das Jahr 2020 aus fachlicher Sicht sehr erfolgreich, denn den Radverkehr kann man bisher als absoluten Gewinner dieser Krise bezeichnen. Wir haben in Hamburg 33 Prozent mehr Radverkehrsanteil auf den Straßen als in den letzten Jahren; es gibt Kreuzungsbereiche, an denen wir den Radverkehr nicht mehr sicher abwickeln können, weil er so stark angewachsen ist. Auch haben wir in 2020 einen neuen Rekord aufgestellt: Wir haben 62 Kilometer neue Fahrradwege gebaut – das ist enorm. 

Was bedeutet das für die Mobilität in der Stadt insgesamt? 

Fahrrad zu fahren eröffnet für viele Menschen eine Möglichkeit, sich zu bewegen, in Kontakt mit anderen zu gelangen, die Stadt aus neuen Blickwinkeln zu erleben. Insbesondere, um auch aus der monotonen Homeoffice-Situation auszubrechen. Natürlich gewinnt auch der Fußverkehr hinzu, während der Autoverkehr durch die Homeoffice-Situation nachgelassen hat. Leider gehört in dieser Situation der öffentliche Nahverkehr zu den Verlierern, es wird in den nächsten Jahren eine große Herausforderung für die Städte sein, hier wieder aufzuholen. Ich glaube, eine große gesellschaftliche Aufgabe wird darin bestehen, das Vertrauen in die sichere Nutzung des ÖPNVs wieder zu stärken. Wir werden das aber schaffen. Da bin ich zuversichtlich. Mit guten Hygienekonzepten und neuen Ticketsystemen. Außerdem werden die Städte weiterwachsen, aber die Flächen bleiben knapp. 

 

Was war für Sie in den letzten Monaten rund um die Pandemie und die Entwicklungen, die damit zusammenhängen, die überraschendste Erkenntnis?

Es war verblüffend zu sehen, dass man in Hamburg sehr gut Fahrrad fahren kann, wenn weniger Autos unterwegs sind. Und wie vielen Menschen das Fahrradfahren dann plötzlich Spaß bringt und sie sich sicherer fühlen. Viele scheinen Hamburg mit dem Fahrrad noch einmal ganz neu für sich entdeckt zu haben.  

 

Welche Beobachtungen haben Sie rund um das Stadtleben in Hamburg in den letzten Monaten gemacht?

Es war erstaunlich, wie die Menschen im Sommer 2020 den öffentlichen Raum zurückerobert und genossen haben. Ein schönes Beispiel dafür ist die Krugkoppelbrücke, die zu diesem Zeitpunkt umgebaut wurde. Es gab also keinen Autoverkehr auf der Brücke und so wurde sie jeden Abend zu einem lebendigen Treffpunkt. Verschiedenste Menschen haben sich dort ganz zwanglos getroffen, miteinander Zeit verbracht, etwas getrunken. Sie haben ihre Stadt ganz anders erlebt als zuvor. So eine Lebendigkeit habe ich an diesem Ort noch nie erlebt. Vor der Bautätigkeit fuhren Autos dort auf vier Spuren – an diesem schönen Ort, unglaublich. Das vergisst man so schnell. Dieses Bedürfnis nach sozialem Austausch im öffentlichen Raum ist während der Pandemie sehr stark geworden. Deswegen werden aus meiner Sicht kulturelle Angebote in der Innenstadt auch zukünftig so wichtig. Dass es einen Grund gibt, dort zu verweilen. Dafür brauchen wir attraktive Aufenthaltsmöglichkeiten.

 

Wie hat sich Ihr Bild von der Innenstadt vor und während der Pandemie verändert? 

Vor der Pandemie habe ich die Hamburger Innenstadt vor allem mit Einkaufen, Parkhäusern und Autos am Jungfernstieg verbunden. Ich gehe davon aus, dass wir die Innenstadt nach der Pandemie in vielen Bereichen ganz neu denken werden. Und zwar als einen Begegnungsort mit starker Aufenthaltsqualität, mit Kultur, mit wechselnden Angeboten und auch einer anders gestalteten Form des Einzelhandels. Ich glaube auch, dass die Menschen während der Pandemie die Bedeutung und den Wert eines kleinen, regionalen dörflichen Kerns in ihrem Quartier erkannt haben. Dass es einen Wert hat, wenn kein Autolärm zu hören ist, die Stadt leiser, die Luft besser wird und mehr Raum für Begegnung entsteht – diese Grundwerte werden die Innenstädte und die regionalen Zentren nach der Pandemie prägen. 

 

Das Thema autofreie Innenstadt gilt als sehr umstritten. Was glauben Sie, wie sich das Klima diesbezüglich in Hamburg entwickeln wird? Und wie werden Sie damit umgehen? 

Kurzfristig wird es gerade in der Innenstadt sicher kontroverse Diskussionen geben, denn es geht um berufliche und wirtschaftliche Existenzen und die Veränderungsbereitschaft der einzelnen Akteure. Hier entstehen schnell gegensätzliche Interessen. Auf der einen Seite wird es in Handel und Gastronomie um das nackte Überleben gehen und damit schnell um den Erhalt des bekannten Status quo. Auf der anderen Seite ist allen Akteuren klar, dass es ohne Veränderung sehr schwer wird, zu überleben. Wir brauchen Visionen. Und nicht alles ist klar: Was wird sich in den kommenden Monaten auf Hamburgs Straßen abspielen, wenn das Homeoffice zwar gelockert wird, der ÖPNV aber das Vertrauen der Bevölkerung noch nicht zurückgewonnen hat? Hier scheinen mir größere Konflikte auf der Straße zwischen Autofahrern und Radfahrern vorprogrammiert. Es gilt dann, die Vision der Mobilitätswende nicht aus den Augen zu verlieren und mit aller Kraft darauf hinzuwirken, dass der ÖPNV wieder in Schwung kommt und der Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur schnell vorankommt. 

 

Das Thema Lebensqualität in der Stadt scheint wichtig zu sein. Im Sommer haben wir gesehen, dass die Gastronomie mehr Außenflächen nutzen darf, im Hamburger Park Planten un Blomen gab es einen temporären Rollschuhverleih. Man sieht ganz viele spannende Initiativen, die Orte in der Stadt noch attraktiver machen als zuvor – und die Lebensqualität trotz Krise erhöhen. Wie kann man dafür sorgen, dass solche Projekte auch über die Pandemie hinaus Bestand haben? 

Ich glaube, da muss man den Bogen etwas weiterspannen. Wir werden nach der Pandemie nicht alle wieder fünf Tage die Woche ins Büro gehen. Davon bin ich überzeugt. Die Arbeitssituation wird sich für die Menschen, die bisher jeden Tag im Büro waren, stark verändern. Das bedeutet auch: Wer viel zuhause ist, möchte ja erst recht ab und zu raus in die Stadt. Ich glaube, dass die Menschen eine Sehnsucht danach haben werden, wieder in die Innenstadt zu gehen, sich dort aufzuhalten, Sitzgelegenheiten zu nutzen, flanieren zu gehen. Und genau darauf müssen die Maßnahmen einzahlen. Wichtig ist vor allem, dass man neue Angebote ermöglicht und erlebbar macht. Wir dürfen nicht nur davon sprechen, die Innenstadt attraktiv zu machen, sondern müssen dies Erlebnis sichtbar machen und das auch in einem relativ schnellen Zeitraum umsetzen.

 

Das heißt, die Zeit für Veränderungen ist jetzt? 

Ja, ganz genau. Ich glaube, die Chance, die in der Pandemie liegt, ist, dass die Menschen die Vorteile von weniger Autoverkehr erlebt haben. Welche Qualitäten Orte wie die Krugkoppelbrücke entfalten können. Was eine Stadt mit weniger Verkehr ausmacht. Die Luft ist so viel besser. Das Verständnis, warum es zum Beispiel ausreichend breite Radverkehrsanlagen braucht, ist jetzt viel größer. Viel mehr Menschen, darunter auch ungeübte Radfahrer, stehen plötzlich an Kreuzungen und möchten sicher durch die Stadt navigieren. Die Defizite werden deutlich, darauf kann man jetzt aufbauen und Verbesserungen erreichen.

 

Wie könnte das konkret aussehen? 

Wir haben in Hamburg im vorletzten Jahr einen Verkehrsversuch im Rathausviertel durchgeführt, bei dem einzelne Straßenzüge gesperrt wurden. Das wurde von der Mehrheit sehr positiv aufgenommen. Das Viertel wurde attraktiver, weil unter anderem die Gastronomen ihre Tische auf die Straße stellen durften, und die Menschen gerne ihre Mittagspause dort verbracht haben. Ich glaube, dieser Ansatz wird sich noch weiter verfestigen. Manchmal wünsche ich uns in der Hinsicht auch mehr Mut, einfach etwas auszuprobieren oder die bürokratischen Hindernisse möglichst niedrig zu halten, um Kreativität entstehen zu lassen. Aber mit diesen Verkehrsversuchen, die jetzt auch in der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) vorgesehen sind, haben wir dafür verbesserte Rahmenbedingungen. Einfach mal machen. Leider neigen wir dazu, erstmal alle Probleme zu diskutieren, bis die Lust und der Mut vergangen sind. Das können wir eigentlich besser. 

 

Wie glauben Sie, verändert sich die Rolle der Bürger in der Post-Corona-Stadt? 

Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Bürgerinnen und Bürger wütend auf “die da oben” sind, wütend auf den Staat. Und diese undefinierbare Wut auf die Entscheider, auf die Politik, die halte ich für sehr gefährlich. Ich habe den Eindruck, dass die mit der Pandemie verbundenen Einschränkungen dieses Gefühl bei manchen Menschen verstärkt oder ausgelöst haben. Es ist wichtig, dass wir uns nach der Pandemie als Gesellschaft über gemeinsame Werte und Normen verständigen, um die großen Themen, wie Klimaschutz und Mobilitätswende, angehen zu können. Sonst könnten daraus Stellvertreter-Konflikte erwachsen. Dann gibt es den wütenden Autofahrer, der stinksauer auf den Radfahrer ist, aber gar nicht auf den Radfahrer, sondern weil da noch ganz was anderes mitschwingt. Und das halte ich für gefährlich.

 

Was macht die Pandemie mit unserer Sicht auf die Zukunft? 

Ich glaube, dass die Pandemie es sehr schwer macht, eine gemeinsame Vision kreativ zu entwickeln und zu finden. Das merke ich übrigens auch bei meiner Arbeit, die davon lebt, dass ich mit den Menschen über Visionen spreche und Impulse uns voranbringen. Im Moment ist der Status: verharren, irgendwie durchkommen, von Tag zu Tag.  Die Länge der Pandemie wird sicherlich einen Einfluss haben, wann wir wieder aufbrechen und uns entfalten. Sicher müssen Stadt und Menschen erst einmal die Pandemie verarbeiten, bevor wir gemeinsam weit nach vorne schauen können. Aber solange die Wut noch gärt, so stark in den Freiheitsrechten eingeschränkt zu sein und viele Unternehmer um ihre Existenz bangen, werden die Menschen eher weniger bereit sein, über Visionen zur Mobilitätswende zu diskutieren.

 

Mit Blick auf die letzten Monate: Welche Ihrer Fähigkeiten haben Ihnen in Ihrer Arbeit am meisten geholfen, mit diesen ganzen Veränderungen umzugehen? 

Zuhören. Zuhören und Aussagen einfach erst einmal wirken zu lassen. Ich glaube, man darf nicht vergessen, dass jeder Einzelne einen eigenen Blick auf die Pandemie hat. Und erst durch das Zuhören und den Perspektivwechsel kann überhaupt wieder ein Boden für ein gemeinsames Gespräch und ein gemeinsames Bild entstehen. Man sollte sich auch frei davon machen, dass die eigene Vorstellung das Maß der Dinge ist. Sondern dass im Moment jeder einzelne Gesprächspartner einen anderen Blick auf die jeweilige Situation hat und diese auch unterschiedlich bewertet.

 

Wenn wir von Ihren persönlichen Fähigkeiten ausgehend weiterdenken – welche Fähigkeiten oder Arbeitsweisen brauchen Institutionen, Städte, Behörden aus Ihrer Sicht in Zukunft? 

Es braucht einen Dialog zwischen Stadt und Bevölkerung darüber, was passiert ist und wie wir unsere gemeinsame Zukunft gestalten wollen. Zur Stärkung unserer demokratischen Kräfte kann das nur im Diskurs geschehen. Wir müssen mit den Bürgerinnen und Bürgern so viel wie möglich interagieren. Kommunikation und Diskurs ist aus meiner Sicht zentral für die Zeit nach der Pandemie. Wie man das auch immer organisatorisch hinbekommt, das kostet Geld. Das kostet Ressourcen, das kostet Nerven. Aber ich bin überzeugt, das ist es wert und ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen werden. 

 

Vielen Dank!

 

Bildquelle: © BVM